Werner Tübke (1929–2004)

Kurzbiografie
Biographie: 1929 in Schönebeck/Elbe geboren –
1948–50 Studium an der Hochschule für Graphik und
Buchkunst Leipzig bei Elisabeth Voigt, Walter Arnold
und Ernst Hassebrauk | 1950–53 Studium der
Kunsterziehung und Psychologie in Greifswald | seit
1963 Lehrtätigkeit, ab 1972 Professur, 1973–76
Rektor der Hochschule für Graphik und Buchkunst in
Leipzig | danach freischaffend in Leipzig | 1975–87
Schaffung des Monumentalgemäldes für die Bauernkriegsgedenkstätte
im Panorama Museum Bad Frankenhausen
| 2004 verstorben

Der Leipziger Künstler Werner Tübke (1929–2004) hat
ein Werk geschaffen, das nicht nur dem Auge, sondern
auch dem Verstehen eine außergewöhnliche Anregung
gewährt. Von privater Innenschau bis zu erschütternden
monumentalen Visionen reichen seine allegorischen
Bildfi ndungen. Altmeisterliche Technik, visionäre Bildmacht,
die genaue Kenntnis christlicher Ikonographie
und ein enormes historisches Wissen waren die Bedingungen
für seine individuelle Betrachtung der existentiellen
Konfrontation des Menschen mit Geschichte
und Gegenwart.
In diesem Jahr hätte der 1929 geborene Maler und
Graphiker seinen 80. Geburtstag begangen.
Mit einer umfangreichen Auswahl von Lithographien,
die als graphischer Refl ex seiner Bildwelt das malerische
Schaffen seit Ende der 1960er Jahre begleitet haben,
möchten wir diesem Künstler mit einem Einblick in die
Vielfalt seines Werkes unsere Reminiszenz erweisen.
Die Herausbildung seiner Kunstsprache nahm ihren
Ausgang an der Hochschule für Graphik und Buchkunst
in Leipzig, vertiefte sich durch das Studium der Kunstgeschichte
an der Universität in Greifswald und fand,
wieder in Leipzig, ihre spezifi sche Ausprägung. Dennoch
sind die für ihn gültigen Bezüge vor allem in der Male-
rei der Renaissance und in einem für die heutige Zeit
ungewöhnlichen Traditionsverständnis zu sehen,
welches auf Auseinandersetzung und nicht auf Nachahmung
beruht. Tübke schöpfte aus dem exzessiven
Umgang mit einem enzyklopädischen Wissen literarischer
und kunsthistorischer Dimension und aus
kombinatorischer Gedankenfreiheit. Dem entsprach die
Entwicklung der künstlerischen Mittel zu höchster Präzision.
Mit der Kreidelithographie bot sich Tübke ein
graphisches Medium, welches – technisch noch freier
als die Radierung – die Verwirklichung der handschriftlichen
Zeichenspur in einer unmittelbaren druckgraphischen
Sinnlichkeit und Frische erlaubte.

Die technische
Brillanz der Blätter war über viele Jahre hinweg
dem Leiter der Werkstatt für künstlerischen Steindruck
an der Leipziger Hochschule für Graphik und Buchkunst,
Horst Arloth, zu verdanken. Aus der Porösität der
kurzen Kreidestriche erwuchsen Gestik und Physiognomie
von Tübkes Bildgestalten; aus der Nuancierungen
von hauchzarten Graus und samtigem Schwarz
die malerische Athmosphäre der Bildinszenierungen.
Die reiche Vielfalt visueller Zusammenhänge in
Tübkes Gestaltungen zeigt sich bereits in den Strukturen
der ersten Steinzeichnungen, »Männlicher Akt« und
» Vier Aktstudien« von 1969.
Ab Mitte der 1970er Jahre entstanden parallel zum
Entwurf des Panoramagemäldes in Bad Frankenhausen
Lithographien zu seiner bildmächtigen Schilderung des
gescheiterten Bauernaufstandes von 1525. »Die Schlacht
bei Bad Frankenhausen« und »Folterszenen« stammen
aus dem Jahr 1976 und gehören zu den ersten Arbeiten
zu Reformation und Bauernkrieg. In einer am Manierismus
der ausklingenden europäischen Renaissance orientierten
Formensprache hat Tübke in das Gespinnst
feinster Linien die Allgegenwart totalitärer Geschichte als
leidvolle Erfahrungen von Schmerz, Tod und Ungerechtigkeit
eingewoben. Hinzu treten Blätter mit christlicher
Ikonographie wie »Verkündigung« 1978 und »Am Kreuz
III« 1979 und Bildgleichnisse wie der »Zug der Pestkranken,
Kreuzabnahme« 1981, die die Verschränkung
von Irdischem und Religiösem thematisieren.
Auch der Narr als Symbolfi gur des exzentrischen Außenseiters
spielt eine bedeutende Rolle in Tübkes Figurenrepertoire.
Er spiegelt die eigenen Wahrnehmungen
der Zeit als Erkenntnis der Brüchigkeit menschlichen
Handelns und als Geworfensein in unvorhersehbare
Widerstände. Litographien wie »Ausstellung eines
Narren«, 1980 und »Gen Narragonien« 1981 stehen
für diese Betrachtungen; eine der jüngsten Lithographien,
die wir zeigen können, ist der »Friedensnarr« von
1988. Außerhalb aktuell herrschender Ideologien
erfasst Tübke so Wirklichkeit und Vision des menschlichen
Daseins in sinnbildhaft überhöhter Form.